Eine besondere Beute
- Die einsame kleine Bucht am Est-Ende der "Straße der
Helden" war ein ideales Versteck. Man konnte sie von See her
kaum einsehen, so daß die Besatzung des Piraten-Flagschiffes
aufgrund des Überraschungsmomentes bereits reiche Beute gemacht
hatte. Die Nemesis hatte einfach einzeln fahrenden Schiffen
aufgelauert und sie ausgeplündert bis aufs Hemd. Fast tat es
den Männern und Frauen leid, daß niemand überlebte,
der davon hätte berichten können...
- Ganz ohne Blessuren hatten die Piraten die Kaperungen natürlich
nicht überstanden, aber immerhin war keiner endgültig von
Bord gegangen. Pat O'Malley, die auf dieser Kaperfahrt ganz alleine
den Schiffsdoc' mimen mußte, war ziemlich geschafft, als sie
die abendliche Runde beendet hatte.
- Zum Schlafen würde in dieser Nacht niemand kommen, denn die
Nemesis würde die Vollmondnacht nutzen um die Heimfahrt
anzutreten. Schließlich sollte man ertragreiche Fanggründe
nie leerfischen...
- Und so setzte bei Einbrechen der Dämmerung geschäftiges
Treiben ein. Während Kayleigh d'Anjou in ihrer Kajüte den
günstigsten Kurs festlegte, scheuchte El Mare bereits die Leute
in die Wanten und an die Ankerspills. Pat war am Backbordspill, und
auf Kommando begannen die Leute die Anker zu hieven. Doch während
sich der Steuerbordanker wie gewohnt einholen ließ, blieb der
Backbordanker beharrlich dort wo er war, nämlich im Grund der
Bucht. El Mare hatte dem Mühen der Leute einige Zeit zugesehen,
doch dann trat er, sich am Bart kratzend, näher und meinte:
"Mh, dann wird wohl jemand nachsehen müssen, woran der
Anker hängt... Freiwillige?" Die Piraten am Spill guckten
sich fragend an, als sich Pat meldete. "Du? Du kannst doch
gerade mal so schwimmen, daß Du nicht untergehst!",
lachte El Mare lauthals. "Das ist immerhin mehr als die meisten
hier können...", meinte Pat selbstbewußt, "...vor
allem, wenn das, was ich dort finde, mir gehört!" Nun
mußten die umstehenden Leute auch lachen. Was sollte auf dem
Grund schon sein außer Schlick, Steinen und ein paar
Fischen... nun, zumindest irgend etwas, was den Anker festhielt.
Während die anderen noch redeten, hatte Pat ihre Jacke und die
Stiefel ausgezogen, ein Tau umgebunden und ihr Entermesser zwischen
die Zähne gesteckt. Und bevor die anderen noch reagieren
konnten, sprang sie vom Bug kopfüber ins Wasser, und die
verdutzten Männer und Frauen sahen noch, wie sie sich am
Ankertau in die Tiefe hangelte...
- Ziemlich finster war es hier unten! Wenn jetzt ein gefräßiger
Fisch käme, wäre sie leichte Beute... Pat schauderte,
dachte dann aber daran, daß sich solche Fische wohl selten in
eine Bucht flüchten würden. Zum Glück war das Wasser
nicht tief, und bald tastete sie sich am Anker entlang. Das Metall
hatte sich weit in den Schlick gebohrt und sich wohl beim Wenden im
Untergrund verhakt. Eine nochmalige Wende würde ihn vielleicht
wieder lösen. Als sie sich umdrehte, um nach oben zu tauchen,
stieß sie mit dem Fuß an etwas Hartes. Verblüfft
tastete sie den Boden mit den Händen ab, mußte dann
jedoch dringend Luft holen. Sie ließ sich nach oben treiben,
nahm ein paar Luftzüge und tauchte wieder. Sie fand die Stelle
schnell wieder, und merkte: Es war eine Truhe! Ohne lange zu
überlegen, bohrte sie mit dem Messer in den Schlick eine Grube,
zog das Tau unter der Truhe durch und schlang es dann, so gut es
ging, um den Anker. Da sie unter Wasser den Knoten nicht so fest
ziehen konnte, steckte sie das Messer fest. Ihr wurde schon schwarz
vor Augen, doch sie schaffte es noch, sich vom Boden abzustoßen,
um schnell wie eine mit Luft gefüllte Schweinsblase
aufzutauchen. An der Oberfläche ließ sich Pat zunächst
treiben, um wieder Luft und etwas Kraft zu tanken, hängte sich
dann in die heruntergeworfene Strickleiter und ließ sich an
Bord ziehen.
- Natürlich wurde sie sofort von allen umringt. "Was
warst Du solange da unten? Was ist mit dem Anker?", sprachen
die Umstehenden auf sie ein. Immer noch nach Luft japsend flüsterte
sie: "Wir müssen wenden, dann kommt der Anker frei! Und
die Kiste gehört mir!" Während einige Pat noch
fragend ansahen, veranlaßte El Mare bereits das Wendemanöver.
Zum Glück wehte eine leichte Brise, sonst hätten sie mit
dem Auslaufen noch warten müssen.
- Tatsächlich kam der Anker frei, und gespannt und erschöpft
lehnte Pat an der Reling, um beim Hieven zuzusehen. Und wie erstaunt
waren die Leute, als am Anker tatsächlich außer einer
Menge Tang eine Truhe hing - mehr schlecht als recht, aber sie
schien zumindest nicht sofort wieder ins Wasser zu fallen. El Mare
und Pat ließen sich mit der Schaluppe hinunter, um die Kiste
zu bergen.
- Wieder an Deck war die Spannung natürlich groß! Zwar
hatte jeder Mannschaftsteil durch diese Kaperfahrt gut verdient,
aber neugierig waren doch alle.
- Die Truhe mußte früher reich verziert gewesen sein,
doch das Wasser hatte ihr arg zugesetzt. Trotzdem stellten sich die
Schlösser als äußerst widerspenstig heraus. Mit
vereinten Kräften gelang es jedoch, sie zu öffnen...
- "Oh...", entfuhr es erstaunten Mündern, allen
voran Pat. Seltsame Silbermünzen befanden sich in der Kiste,
ein paar Ringe und Ketten. Gebannt sahen die Leute zu, als Pat
hineingriff und die Stücke zurück in die Kiste rieseln
ließ. In all dem Silberglanz befand sich jedoch ein Stück,
das Pat sofort in ihren Bann zog: eine Kette mit einem
faszinierenden, schwarz-schillernden Anhänger. Es war, als ob
sie in das Schwarz hineinblicken könne, darin versinken, sich
verlieren...
- Auf einmal hängte sie sich die Kette um, warf den Deckel
der Truhe zu und rief triumpfierend: "Meins!"
- Der Zauber verflog, und brummend ging die Mannschaft wieder an
die Arbeit. Kayleigh hatte dem Treiben vom Ruderhaus aus zugesehen,
und kam nun näher. "Na, und was willst Du mit dem Silber
nun machen?", fragte sie leise. Noch etwas verwirrt zuckte Pat
mit den Schultern. "Mh, am besten wohl aufpassen, daß ich
es noch habe, wenn wir in Port Scull ankommen..."
- Nun, das war kein großes Problem. Die wertvollsten Güter
hatte die Kapitänin in ihrer Kajüte eingeschlossen, und
genau das geschah auch mit der Truhe.
- Tage und Nächte vergingen. Meistens segelte die Nemesis bei
Nacht, da die Gefahr einer Entdeckung in der "Straße der
Helden" einfach zu groß war. Auch bei Nebel oder Regen
kam man gut voran; bei hellem Tageslicht versteckte sich das Schiff
jedoch in Buchten, zwischen kleinen Inseln oder im Schatten von
Felsvorsprüngen. Mit Bedauern ließ die Mannschaft den
ranabarischen Segler ziehen, der unvorsichtigerweise auf Sichtweite
an ihnen vorbeifuhr. Eine Entdeckung konnten sich die Piraten nicht
leisten, und die Nemesis war durch die Beladung recht träge
geworden.
- Port Scull wurde zum Tollhaus, als das Flaggschiff im Hafen
einlief. Der Großteil der Mannschaft konnte es gar nicht
erwarten, das verdiente Geld auszugeben. Endlich, nachdem das Schiff
festgemacht war, ließ Kayleigh die Beute nach oben schaffen,
und unter ihren wachsamen Augen verteilte der Quartiermeister die
Beute. Jeder wollte als erster drankommen, und so fiel gar nicht
auf, daß eine ganz bestimmte Truhe nicht an Deck geholt worden
war.
- Pat hatte als Schiffsdoc' ihren Anteil schon recht früh
bekommen, doch anstatt mit ihrem Beutel jubelnd die nächste
Kneipe anzusteuern, lehnte sie sich an die Reling und sah auf's Meer
hinaus. Bald hingen aber ihre Augen wieder an dem merkwürdigen
Anhänger. Es war, als ob sie immer tiefer in dem Schwarz
versinken wollte. Sie wußte, diese Kette würde sie nie
mehr hergeben - sie war sich nur nicht sicher, wer von beiden dies
bestimmte!
- Kayleigh war leise hinter Pat getreten. Sie machte sich Sorgen,
denn sie hatte so eine Ahnung... Irgendetwas stimmte mit dieser
Kette nicht! Pat fuhr unterdessen herum und fauchte Kayleigh
regelrecht an: "Was gibt's denn?"-"Du kannst jetzt
Dein Silber holen!" Ohne Worte drehte sich Pat weg und ging
unter Deck. Kayleigh folgte ihr nach unten.
- "Weißt Du nun, was Du mit dem Geld machen willst?"
Pat stellte die Truhe wieder ab. "Ich kaufe mir ein Schiff!"
Kayleigh war nun doch überrascht. "Ein Schiff?"-"Ja,
oder meinst Du etwa, das dürfe ich nicht?" Angriffslustig
blitzten Pat's Augen die Kapitänin an. "Doch, doch, wenn
Du das meinst, dann mußt Du das eben tun......",
beschwichtigte Kayleigh. "Sag' mal, dieser Anhänger, was
bedeutet er für Dich?", wechselte sie blitzschnell das
Thema. "Meine Sache..." brummte Pat, und packte den Inhalt
der Kiste in einen großen Beutel. Grußlos verließ
sie die Kajüte, stapfte nach oben und lief geradewegs an Eysa
Voolphawk vorbei. Eysa grüßte, aber als sie keine Antwort
bekam, ging sie unten. "Ich dachte, Ihr hättet gut
verdient", versuchte sie einen Scherz zu machen, "aber
wenn ich Pats Gesicht so sehe?" Kayleigh schüttelte den
Kopf. "Nein, da steckt etwas anderes dahinter, und das hat mit
dieser Kette zu tun..." Sie erzählte Eysa von Pats
seltsamem Fund und dem merkwürdigen Verhalten seitdem. Eysa
ließ sich auf den Karten den Fundort zeigen. "Sag mal,
dort war doch mal eineSchlacht. Mein Vater hatte mir davon erzählt:
Die Invasion der Spinne! Die Substanz führte Krieg gegen die
Ranabarer und die Korosser, und es muß eine gigantische
Seeschlacht gewesen sein!"-"Die Substanz...",
murmelte Kayleigh, "...das würde manches erklären."
Als sie Eysa fragte, ob man gegen diesen Einfluß etwas machen
könne, zuckte diese mit den Schultern. "Freiwillig wird
sie Dir den Anhänger sicher nicht geben!" Auch der
geplante Schiffskauf beschäftigte die beiden. Kayleigh konnte
Pat schließlich nicht daran hindern, auch wenn sie
Befürchtungen über deren zukünftige Treue hegte...
- Die Piraten nutzte die Gelegenheit, sich mal wieder richtig zu
amüsieren! Kneipen und Freudenhäuser waren gerammelt voll,
und die meisten waren eher besoffen als nüchtern anzutreffen.
Wenn sich zwei mal nicht so gut verstanden, war eine zünftige
Rauferei angesagt, an der sich häufig auch die anderen
Kneipenbesucher wacker beteiligten. Es fiel jedoch auf, daß
Pat O'Malley überdurchschnittlich häufig an den
Schlägereien beteiligt war. Sie war leicht reizbar geworden,
wußte sich aber ihrer Haut umso besser zu wehren...
- Drei Wochen später brach die Nemesis auf, um die restlichen
erbeuteten Waren nach Tidford zu bringen. Die dortigen Hehler
zahlten zwar nicht ganz so gut, waren dafür aber verschlagener
beim Verscherbeln. Niemals würde irgendjemand davon erfahren,
woher das Zeug kam... Kayleigh mußte manchmal daran denken,
daß Pat hier vielleicht ihr Schiff erstehen würde.. Pat
erfüllte ihre Aufgaben genauso wie bisher, war jedoch ziemlich
verschlossen. Auch die Kranken versorgte sie weiterhin gut - die
beschwerten sich wohlweislich auch nur heimlich darüber, daß
die Versorgung so ruppig geworden war...
- Tidford war ein Schmugglernest wie eh' und je. Nichts, was man
nicht verkaufen oder kaufen konnte, ob Menschen oder Tand. Und so
waren auch schnell Abnehmer für die Stoffballen, das Geschirr
und den anderen Plunder gefunden.
- Pat war derweil auf Schiffssuche. Eysa brachte sie mit einem
Händler zusammen, der in den nächsten Tagen eine
"Lieferung" erwartete. Und tatsächlich lief nach
knapp einer Woche ein windschnittiger schmaler Zweimastschoner ein,
der jedoch ziemlich "mitgenommen" aussah - im wahrsten
Sinne des Wortes. Die ganze Mannschaft der Nemesis beteiligte sich
an dem Kauf - nachts wurde das Schiff auf Schäden untersucht
und tagsüber diskutierte man am Kai. Kayleigh und Eysa merkten,
daß Pat für ihre Hilfe dankbar war, auch wenn sie das
nicht (mehr) so ausdrücken konnte.
- Der Händler kam mächtig ins Schwitzen. Seine Forderung
wich doch erheblich von dem ab, was Pat gewillt war zu bezahlen.
Nach zähen Verhandlungen einigten sie sich jedoch auf den
Kaufpreis, woran sicher die Anwesenheit einiger waffenstarrender
Piraten nicht ganz unschuldig war...
- Der Händler erhielt also das Silber, und die Mannschaft
flickte den Schoner notdürftig, damit er die Fahrt zu den
Inseln hinter dem Winde überstehen würde. Am nächsten
Morgen verließen die beiden Schiffe den Hafen.
- Noch vier Wochen später rieb sich der Händler die
Hände. Wie leicht hatten sich diese Piraten doch über's
Ohr hauen lassen - und wie lange ließ es sich doch mit dem
Erlös angenehm leben!
- Eines Abends sah er in seine Geldtruhe - und erschrak: Das ganze
obenauf gelegte Silber war weg - so weg, als hätte es nie
existiert! Räuber konnten es nicht entwendet haben, denn er
hatte das Haus die letzten Tage kaum verlassen. Doch wo er auch
hektisch suchte: Das Silber war und blieb verschwunden...
- Pat hatte noch eine Menge Geld an Zimmerleute, Segelmacher und
Kalfaterer zu zahlen. Doch da diese das Geld recht schnell wieder
ausgaben, fiel es gar nicht auf, das auch dieses eines Tages einfach
nicht mehr da war.
- Doch Pat O'Malley hatte ihr eigenes Schiff! Sie ließ es
sich nicht nehmen, selbst auf einem Holzbrett hinuntergelassen zu
werden, um auf den Rumpf den Namen zu pinseln: "Rinceoir",
die Tänzerin im Wind und auf den Wellen!
- © Andrea Schäfer
im März 1997