Die Besucherin
- Mit letzter Kraft waren wir dem Sturm entkommen. Das Meer hatte
derart gewütet, daß nicht nur die Segel in Fetzen hingen.
Auch jeder von uns fühlte sich, als ob das oberste zuunterst
gekehrt worden war...
- Wir hatten in einer winzigen ranabarischen Bucht geankert, um am
nächsten Tag die Schäden feststellen und mit den
Reparaturen beginnen zu können. Doch heute fühlte sich
niemand mehr imstande, irgendetwas zu beginnen. Auch ich fühlte
mich wie gerädert, zumal mir auch noch die Seekrankheit
zugesetzt hatte.
- Ich hatte mich zur Nachtwache einteilen lassen. Gerade weil ich
ja die Seefahrt noch nicht beherrschte, konnte ich mich wenigstens
auf diese Weise nützlich machen. Der Koch hatte mir aus den
verbliebenen Vorräten Trockenfleisch und Obst gegeben. Damit
und mit einem Licht setzte ich mich auf ein Stück Reling des
Oberdecks. Die "Nemesis" sah furchtbar aus. Ein Mast war
geknickt, die Schaluppe und ein Anker waren verloren, von der
Verschanzung waren nur noch Teile übrig, und durch undichte
Planken drang Wasser ins Schiff. Das würde eine Menge Arbeit...
- Die Nacht brach schnell herein, und nach und nach riß die
Wolkendecke endgültig auf. Ein fast unwirklich riesiger
Vollmond beleuchtete die Szene, sodaß ich mein Licht erst gar
nicht entzündete. Einen Feind hätte man auf Meilen sehen
können, wenn nicht schon dicht am Ufer der Urwald
undurchdringlich zu werden schien.
- Es war sehr still, als ob sich selbst zwischen den Bäumen
alles Leben zur Ruhe begeben hätte...
- Oder doch nicht? Ich hörte ein sirrendes Pfeifen und konnte
auch bald die dazugehörenden ("Schinkofi" genannten)
Flughunde erkennen. Die nächtlichen Jäger waren unterwegs!
- Plötzlich sträubten sich mir sämtliche
Nackenhaare. Gefahr spürend hechtete ich hinter ein Faß,
drehte mich um und zog gleichzeitig mein Rapier. Vor mir stand...
- ... eine wunderschöne Frau. Ohne Alarm zu schlagen, erhob
ich mich. Diese Frau sah nicht gerade aus, als ob sie mir
irgendetwas tun könnte. Sie hatte dunkles welliges Haar, trug
ein Gewand, wie ich es von Damen der Oberschicht kannte und viel
Schmuck. "Wer seid Ihr?" fragte ich sie. "Ich bin
Kilana."sagte sie mit einer wunderbaren, fast singenden Stimme
und lächelte mich an. "Und was wollt Ihr?", flüsterte
ich, ganz verzaubert von diesem Wesen. "Etwas naschen..."
lächelte sie. Nun war ich doch etwas verwirrt. Wegen des
bißchen Trockenfleisches solch ein Gewese? Aber irgendwie
konnte ich diesem Anblick und dieser Stimme nicht entkommen. Wie
gelenkt machte ich einige Schritte zu meinem vorigen Platz und
wollte das zähe Fleisch aufheben. "Aber nein, doch nicht
Deine Speise!", lachte sie nun, "Dein süßes
Blut möchte ich kosten!" Mein Blut? Irgendwie fühlte
ich es regelrecht durch meinen Körper strömen. Ohne daß
ich mich dagegen wehren konnte, ging ich auf sie zu, die Hand mit
dem Rapier baumelte irgendwie nutzlos an meiner Seite. Kilana kam
mir entgegen, nahm meinen Kopf in ihre Hände - und auf einmal
spürte ich einen Schmerz an meinem Hals - und dann nichts
mehr...
- Jemand rüttelte an mir. Ächzend rollte ich mich auf
den Rücken. "Schöne Nachtwache hälst Du hier!",
brummte El Mare, der die nächste Schicht übernehmen
sollte. Oh, waren das Kopfschmerzen - und mein Hals war ganz steif.
"Ich habe nicht geschlafen." meinte ich und rappelte mich
endgültig auf. "So, so", grinste der bärtige
Pirat, "und warum kullerst Du dann an Deck umher?" Ich
forderte ihn auf, sich zu setzen. "Sag, glaubst Du an Untote
oder Dämonen?" - "Nun ja, es mag vieles geben, was
wir uns nicht erklären können - und ja, ich glaube
daran.", meinte El Mare und wiegte den Kopf. "Und wenn ich
Dir jetzt erzähle, daß mich so ein Wesen überfallen
hat?" - "Ein Dämon; Dich?" Nun brach er doch in
Lachen aus. "Der Sturm hat Dir ganz schön zugesetzt, was?
Da sieht man so manches... ", und er begann zu erzählen...
- Gebannt hörte ich ihm zu, und ob der haarsträubenden
Geschichten glaubte ich bald selbst nicht mehr an einen Überfall.
Mehr als müde trollte ich mich bei Beginn der Dämmerung zu
meiner Hängematte.
- Aufgrund des Hämmers, Klopfens und Sägens war an
Schlaf jedoch nicht lange zu denken. Müde torkelte ich an Deck,
wo ich Eysa unter die Augen kam. "Meine Güte, Pat, Du bist
ja blaß! War wohl ein bißchen viel, der Sturm und dann
die Nachtwache..." Ich winkte nur ab, und wollte zu dem Faß
mit dem wohl nicht mehr frischen Wasser. Die Sonne spiegelte sich
darin, und ich sah an meinem Hals zwei kleine Male, wie Stiche. Sie
taten etwas weh, als ich sie berührte. Eysa war neben mich
getreten, und meinte nur: "Na, bei den Insekten hier in Ranabar
wundert mich nichts. Du kannst froh sein, daß sie Dir nicht
noch mehr zugesetzt haben."
- Ich sah sie an und grinste etwas gequält. "Insekten...".
Nein, zum Gespött würde ich mich nicht machen lassen!
- Aber als ich mit klammen Fingern Segel nähte, schweiften
meine Gedanken oft ab - zu Kilana. Ob es ihr wohl "geschmeckt"
hatte?
- © Andrea Schäfer
- Erlangen, im Mai 1996