Die Besucherin



Mit letzter Kraft waren wir dem Sturm entkommen. Das Meer hatte derart gewütet, daß nicht nur die Segel in Fetzen hingen. Auch jeder von uns fühlte sich, als ob das oberste zuunterst gekehrt worden war...
Wir hatten in einer winzigen ranabarischen Bucht geankert, um am nächsten Tag die Schäden feststellen und mit den Reparaturen beginnen zu können. Doch heute fühlte sich niemand mehr imstande, irgendetwas zu beginnen. Auch ich fühlte mich wie gerädert, zumal mir auch noch die Seekrankheit zugesetzt hatte.
Ich hatte mich zur Nachtwache einteilen lassen. Gerade weil ich ja die Seefahrt noch nicht beherrschte, konnte ich mich wenigstens auf diese Weise nützlich machen. Der Koch hatte mir aus den verbliebenen Vorräten Trockenfleisch und Obst gegeben. Damit und mit einem Licht setzte ich mich auf ein Stück Reling des Oberdecks. Die "Nemesis" sah furchtbar aus. Ein Mast war geknickt, die Schaluppe und ein Anker waren verloren, von der Verschanzung waren nur noch Teile übrig, und durch undichte Planken drang Wasser ins Schiff. Das würde eine Menge Arbeit...

Die Nacht brach schnell herein, und nach und nach riß die Wolkendecke endgültig auf. Ein fast unwirklich riesiger Vollmond beleuchtete die Szene, sodaß ich mein Licht erst gar nicht entzündete. Einen Feind hätte man auf Meilen sehen können, wenn nicht schon dicht am Ufer der Urwald undurchdringlich zu werden schien.
Es war sehr still, als ob sich selbst zwischen den Bäumen alles Leben zur Ruhe begeben hätte...
Oder doch nicht? Ich hörte ein sirrendes Pfeifen und konnte auch bald die dazugehörenden ("Schinkofi" genannten) Flughunde erkennen. Die nächtlichen Jäger waren unterwegs!
Plötzlich sträubten sich mir sämtliche Nackenhaare. Gefahr spürend hechtete ich hinter ein Faß, drehte mich um und zog gleichzeitig mein Rapier. Vor mir stand...
... eine wunderschöne Frau. Ohne Alarm zu schlagen, erhob ich mich. Diese Frau sah nicht gerade aus, als ob sie mir irgendetwas tun könnte. Sie hatte dunkles welliges Haar, trug ein Gewand, wie ich es von Damen der Oberschicht kannte und viel Schmuck. "Wer seid Ihr?" fragte ich sie. "Ich bin Kilana."sagte sie mit einer wunderbaren, fast singenden Stimme und lächelte mich an. "Und was wollt Ihr?", flüsterte ich, ganz verzaubert von diesem Wesen. "Etwas naschen..." lächelte sie. Nun war ich doch etwas verwirrt. Wegen des bißchen Trockenfleisches solch ein Gewese? Aber irgendwie konnte ich diesem Anblick und dieser Stimme nicht entkommen. Wie gelenkt machte ich einige Schritte zu meinem vorigen Platz und wollte das zähe Fleisch aufheben. "Aber nein, doch nicht Deine Speise!", lachte sie nun, "Dein süßes Blut möchte ich kosten!" Mein Blut? Irgendwie fühlte ich es regelrecht durch meinen Körper strömen. Ohne daß ich mich dagegen wehren konnte, ging ich auf sie zu, die Hand mit dem Rapier baumelte irgendwie nutzlos an meiner Seite. Kilana kam mir entgegen, nahm meinen Kopf in ihre Hände - und auf einmal spürte ich einen Schmerz an meinem Hals - und dann nichts mehr...

Jemand rüttelte an mir. Ächzend rollte ich mich auf den Rücken. "Schöne Nachtwache hälst Du hier!", brummte El Mare, der die nächste Schicht übernehmen sollte. Oh, waren das Kopfschmerzen - und mein Hals war ganz steif. "Ich habe nicht geschlafen." meinte ich und rappelte mich endgültig auf. "So, so", grinste der bärtige Pirat, "und warum kullerst Du dann an Deck umher?" Ich forderte ihn auf, sich zu setzen. "Sag, glaubst Du an Untote oder Dämonen?" - "Nun ja, es mag vieles geben, was wir uns nicht erklären können - und ja, ich glaube daran.", meinte El Mare und wiegte den Kopf. "Und wenn ich Dir jetzt erzähle, daß mich so ein Wesen überfallen hat?" - "Ein Dämon; Dich?" Nun brach er doch in Lachen aus. "Der Sturm hat Dir ganz schön zugesetzt, was? Da sieht man so manches... ", und er begann zu erzählen...
Gebannt hörte ich ihm zu, und ob der haarsträubenden Geschichten glaubte ich bald selbst nicht mehr an einen Überfall. Mehr als müde trollte ich mich bei Beginn der Dämmerung zu meiner Hängematte.

Aufgrund des Hämmers, Klopfens und Sägens war an Schlaf jedoch nicht lange zu denken. Müde torkelte ich an Deck, wo ich Eysa unter die Augen kam. "Meine Güte, Pat, Du bist ja blaß! War wohl ein bißchen viel, der Sturm und dann die Nachtwache..." Ich winkte nur ab, und wollte zu dem Faß mit dem wohl nicht mehr frischen Wasser. Die Sonne spiegelte sich darin, und ich sah an meinem Hals zwei kleine Male, wie Stiche. Sie taten etwas weh, als ich sie berührte. Eysa war neben mich getreten, und meinte nur: "Na, bei den Insekten hier in Ranabar wundert mich nichts. Du kannst froh sein, daß sie Dir nicht noch mehr zugesetzt haben."
Ich sah sie an und grinste etwas gequält. "Insekten...". Nein, zum Gespött würde ich mich nicht machen lassen!
Aber als ich mit klammen Fingern Segel nähte, schweiften meine Gedanken oft ab - zu Kilana. Ob es ihr wohl "geschmeckt" hatte?


© Andrea Schäfer
Erlangen, im Mai 1996


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