Auf Leben und Tod



Der Wind hatte aufgefrischt. Die Segel blähten sich und zogen die „Rinceoir" durch die See. Pat O'Malley stand auf dem Achterdeck und hatte die Hand an die Stirn gelegt, um gegen die noch tiefstehende Sonne blicken zu können. Irgendwie hatte sie das unbestimmte Gefühl, daß der beginnende Tag eine Überraschung für sie bereithalten würde. Die Mannschaft war mit einem Eifer am Werk, als ob sie das Kribbeln in der Magengrube ihres Käpt'n gespürt hätte. Die Seefahrt war ihr Broterwerb, sicher, aber an manchen Tagen strotzte man einfach vor Abenteuerlust und war gespannt, was der Morgen bringen würde.
Rica trat zu Pat. „Welchen Kurs, Käpt'n?", fragte sie fröhlich. Langsam, als ob sie erst überlegen müßte, drehte sich Pat um und meinte mit einem Grinsen: „Immer der Nase nach!" Die Steuerfrau nickte Thorgil zu, der das Rad mit stoischer Ruhe führte.
Pat wandte sich wieder dem Geschehen an Deck zu. Der Smutje trat mit einem Kessel an Deck, gefolgt vom Schiffsmädel, das Näpfe und Brot trug. Jeder, der gerade abkömmlich war, ließ sich etwas geben. Arne hatte zwei Schüsseln füllen lassen und ging damit zur Kapitänin. Pat bedankte sich und tauchte den Löffel in den schmackhaften Eintopf. Schweigend standen sie und der Quartiermeister nebeneinander, aßen und genossen diesen ruhigen Moment.
„Schiff voraus!", brüllte es plötzlich aus dem Krähennest. Alle hörten auf zu speisen und starrten in die Richtung, obwohl sie noch nichts erkennen konnten. Gespannte Aufmerksamkeit in jedem Gesicht; jede Hand machte sich bereit zuzupacken. Schüsseln und Flaschen flogen in die Ecken, und der Koch „rettete" das Essen. Arne rief fragend zum Ausguck, um was für ein Schiff es sich handele, doch der Mann konnte es keinem bestimmten Volk zuordnen, zumal dessen Flagge völlig zerfleddert im Wind wehte. Pat gab das Kommando, auf die fremde Brigg zuzuhalten. Die „Rinceoir" war schnell und wendig. Man könnte also immer noch abdrehen, falls es sich um einen überlegenen Gegner handeln sollte...
Aus den friedlich schmausenden Seefahrern waren kampfeslustige Piraten geworden. Und als sie näher herangekommen waren, ließ die Kapitänin die „Gräte" setzen.
Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Pat, als das andere Schiff beidrehte. „Entweder muß der Kerl besoffen sein, oder sehr mutig..." - „Na, Angst scheint er jedenfalls nicht zu haben.", bemerkte der Quartiermeister. Selbst wenn sie gewollt hätten: Es war, als ob die „Rinceoir" selbst sich weigerte, dem Kampf auszuweichen. Immer schneller pflügte der Zweimaster die Wellen. Auf ihr Nicken hin rief Arne die Mannschaft zu den Waffen. Die Ballisten wurden gespannt, Messer und Säbel gezogen. Hektische Betriebsamkeit setzte auf dem Schiff ein.
Die Brigg sah merkwürdig aus, aber Pat konnte nicht sagen, was sie an dem Kahn störte. Schneller als gedacht boten sich die Schiffe ihre Breitseite, und beinahe gleichzeitig gaben die Kapitäne den Befehl die Ballisten abzufeuern. Der Geschützmeister hatte an einigen Pfeilen pechgetränkte Strohbüschel befestigen und anzünden lassen, die die Segel des Gegners in Brand setzten. Dessen Geschosse verfügten lediglich über Metallspitzen, die auf der „Rinceoir" nur wenig Schaden anrichteten. Lediglich etwas Tuch würde man flicken müssen. Die Piraten hatten sich größtenteils hinter die Reling geduckt und warteten nur darauf, daß man nahe genug zum Wurf der Enterhaken kam. Und dann war es so weit. Beide Schiffe waren aufeinander zugetrieben, und Arne der erste, der seinen Haken in die gegnerische Reling trieb. Mit lautem Gejohle zogen die Piraten die Brigg so nahe an die „Rinceoir", bis sie mit blank gezogenen Waffen auf das andere Deck springen konnten. Pat stand unterdessen auf dem Achterdeck und hielt Ausschau nach dem anderen Kapitän. Er war eine imposante Gestalt, vielleicht 35 Lenze alt, schlank und hochgewachsen mit kurzen schwarz-grauen Haaren. Seine bunte Kleidung war erkennbar heruntergekommen, er selbst wirkte blaß; doch mit stolzem Blick sah er zur Kapitänin des Piratenschiffes herüber.
Der Käpt'n zog seinen großen Federhut und grüßte Pat O'Malley mit einer übertrieben ausladenden Geste und einem frechen Grinsen. „Na, dem wird das Lachen schon noch vergehen...", dachte sich die Kapitänin erbost und grüßte mit überheblichen Blick und einem knappen Nicken zurück.
Pat's Männer und Frauen waren inzwischen wie ein Hornissenschwarm über die Matrosen des anderen Schiffes hergefallen. Die Piraten machten nicht viel Federlesens. Wild stachen sie mit ihren Entermessern in Bäuche und Hälse, droschen mit Fäusten auf ihre Gegner ein oder lieferten sich mit Schwerten und anderen Langwaffen rohe Gefechte. Doch die andere Mannschaft ließ sich nicht so einfach abstechen. Sie teilte ebenso tiefe Messserstiche und kräftige Beilhiebe aus. Die Luft war erfüllt von dem Klirren der Säbel, dem Brechen von Knochen, den Schreien der Verletzten, dem Stöhnen der Sterbenden, den Zurufen der Kämpfenden und dem Knarren der Holzplanken. Dazu bliesen zwei Piraten so innig in ihre Dudelsäcke, daß es sich anhörte, als ob sie ein Schwein zu Tode quälen würden. In dem Getümmel aufeinander einschlagender Gestalten konnte man kaum Freund und Feind ausmachen.
Pat O'Malley hatte sich inzwischen mit einer Hand das Tau gegriffen, das von einer Rah herabhing, und an Bord des anderen Schiffes geschwungen. Ein dicker Seemann mit blutunterlaufenen Augen wollte sich auf sie stürzen, aber sie wich ihm geschickt aus und stach ihm auch noch ihr Messer in den Rücken. Rica hatte einem Gegner einen solchen Fußtritt versetzt, daß der vor Pat über die Reling rollte. Es war nicht einfach, sich durch die kämpfenden Leiber nach achtern zu bewegen. Eine leere Flasche kam geflogen und beförderte den Hut der Kapitänin in die See. Zwei Kämpfende rempelten sie an, so daß sie beinahe in den Säbel eines abgrundhäßlichen Matrosen gestürzt wäre - gerade konnte sie den rechten Arm noch zur Abwehr hochreißen und selbst mit links zustoßen. Den Schnitt am Unterarm spürte sie kaum, und den Ärmel konnte man nähen...
Pat hatte sich nun endlich bis zum Kapitän der Brigg vorgekämpft. Arne focht mit ihm eine scharfe Klinge, aber der Mann bewegte sich sich so behende, wie es sein drahtiges Aussehen schon vermuten ließ. „Überlaß ihn mir!", rief Pat. Der Quartiermeister wandte sich einem anderen Gegner zu, der gerade im Begriff war, ein kleines Faß auf Pat zu werfen. „Läßt Du wohl die Kapitäne in Ruhe!", brummte Arne und spaltete mit einem Beilhieb Faß und Kopf des Matrosen.
„Enno tem Brok", stellte sich der Mann vor und verbeugte sich tief, aber erkennbar respektlos. 'Ein Fryse? Seltsam...', dachte sich sich die Kapitänin und stellte sich ihrerseits vor: „Pat O'Malley, Freifahrerin." Sie neigte dazu leicht den Kopf. Mehr Ehrerbietung war ihr der Kerl dann doch nicht wert. Wenn man ihn in ordentliche Kleidung gesteckt hätte, hätte er verdammt gut ausgesehen - und trotzdem war etwas Merkwürdiges an ihm. „Darf ich bitten?", fragte der Kapitän und hob seine erkennbar teure Klinge senkrecht vor's Gesicht. „Aber gerne...", meinte die Frau und hielt sich nicht lange mit Höflichkeitsbezeugungen auf. Sie ließ ihren Degen sprechen - und der andere antwortete! Auf jeden Angriff folgte eine Parade, jede Finte wurde erkannt. Vor und zurück ging es auf dem Achterdeck. Am Steuerrad vorbei, das einige Holzsplitter verlor; an der Reling entlang und wieder quer. Plötzlich strauchelte Pat im Zurückweichen über die Trümmer des Fasses. Tem Brok setzte sofort nach, aber Pat konnte sich schnell zur Seite wegdrehen. In der Bewegung zog sie ihr Messer, das ihr aber von dem Mann mit der Klinge aus der Hand geschlagen wurde. „Na na, wir wollen doch ehrlich kämpfen!", meinte der Kapitän spöttisch und ließ die Frau aufstehen. „Na, dann kannst Du auch ehrlich sterben!", fluchte Pat und ging in Angriffsstellung. Sie war etwas außer Atem und erkannte plötzlich, was an ihrem Gegner so seltsam war: Er schien kein bißchen erschöpft! Obwohl sie ihm durchaus einen heißen Tanz geboten hatte, rang er nicht nach Luft. Egal: Er schien sich nicht ergeben zu wollen, also sollte er zu den Fischen gehen! Und so fochten sie konzentriert weiter und bemerkten nichts mehr um sie herum.
Auf Mittel- und Vorderdeck erlahmten langsam die Kräfte. Die meisten der Matrosen hatten ihr Leben ausgehaucht, aber auch viele Piraten hatten ihren letzten Kampf gekämpft. Wer sich noch auf den Beinen halten konnte, schwang halbherzig seine Waffen. Der Rest lag stöhnend an Deck, so die Leute noch einen Laut von sich geben konnten...
Der Überraschungsmoment war nur kurz, als Pat den Degen in die rechte Hand wechselte, da ihr die linke zu erlahmen drohte. Die beiden Kontrahenten hatte sich wieder einmal in die Mitte des Decks bewegt. Sie gelangten beide in der Nähe des Steuerrades, und Pat gab diesem einen kräftigen Schwung. Der Kapitän stand etwas zu nahe, so daß ihm das drehende Rad die Klinge entwand. Das Rapier sauste durch die Luft und blieb federnd im Mast stecken. „Hab' ich Dich!", fauchte Pat, setzte nach und hielt tem Brok die Degenspitze an die Kehle. Scheinbar resigniert ließ sich der Mann an die Reling zurücktreiben. Die Waffenspitze tupfte ein wenig an seinen Hals, so daß er sich weit hintenüber beugen mußte. „Gibst Du jetzt endlich auf?", fragte Pat schwer atmend. Tem Brok gab keine Antwort, sondern stemmte sich blitzschnell mit den Händen auf die Reling und trat mit beiden Beinen der Frau vor die Brust. Die Kapitänin fiel zu Boden, konnte sich aber nach hinten abrollen, und stand alsbald wieder. Diesen Augenblick hatte der Gegner genutzt, war zum Mast gerannt und hatte sein Rapier herausgezogen. Patt!
Die Frau war nun sichtlich erschöpft, und als der Kapitän angriff, konnte sie ihm nur noch wenig entgegensetzen. Zum Glück hatte sich ihr linker Arm etwas erholt, so daß sie blitzschnell den Degen in die andere Hand gleiten ließ.
Alles, was sich von den Schiffsbesatzungen noch bewegen konnte, hatte sich auf dem Mittelschiff aufgestellt, um diesen schier endlosen Kampf zu verfolgen. Bei jeder Aktion der Kapitänin johlten die Piraten zustimmend. Die Gegner konnten ihren Mann jedoch nicht anfeuern, da sie sonst sofort das Maul gestopft oder eine Kopfnuß bekamen.
Pat konnte nicht mehr. Sie rang nach Luft und sah ab und zu schwarze Punkte vor Augen - aber aufgeben kam für sie nicht infrage! Tem Brok wirkte inzwischen auch nicht mehr so behende, und doch war ihm die Anstrengung kaum anzumerken.
Einem Angriff des Mannes folgte eine müde Parade der Kapitänin - seine Rapierspitze verhakte sich in ihrem schweren Silberschmuck. Beim Zurückziehen riß die Kette und Pat's schwarzer Anhänger flog in hohem Bogen ins Meer... Sie wollte gerade ihre letzten Kraftreserven mobilisieren, da wich tem Brok zurück.
„Genug!", rief er und hielt sie mit der Klinge auf Abstand. „Ihr habt mir einen guten Kampf geliefert! Ich gebe auf - und kann nun endlich sterben..." Pat war viel zu erschöpft, um die Worte zu verinnerlichen. Keuchend stand sie da, ihre Schultern hingen herab und der Degen lag nur nur noch wie zufällig in ihrer Hand. Am liebsten hätte sie sich zu Boden fallen lassen, aber diese Blöße wollte sie sich auf keinen Fall geben. Der Kapitän hob sein Rapier zum Gruß, blickte sie ernst und voller Respekt an und sagte: „Pat O'Malley, Ihr habt gesiegt - und doch verloren. Aber Ihr habt mir das größte Geschenk gemacht, das mir zuteil werden konnte. Meine Mannschaft und ich, wir sind nun endlich von dem Fluch befreit, der uns so viele Jahre dazu verdammt hat ruhelos auf den Meeren zu kreuzen. Keinem Gefecht sind wir aus dem Weg gegangen - immer in der Hoffnung, einen würdigen Gegner zu finden, der uns diese große Bürde nimmt. Nun liegt es an Euch und Euren Leuten, den zu finden, der Euch ebenbürtig ist. Irgendwo da draußen wird er auf Euch warten, auf daß auch Ihr erlöst werdet." Enno tem Brok deutete mit einer weiten Geste hinaus auf die See. Er verabschiedete sich von der Kapitänin mit einem ernsten, fast traurigen Blick. Pat stand wie vom Donner gerührt, unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen. Langsam wurde der Kapitän durchscheinend, und bevor er sich vollends in Luft auflöste, hörte sie noch einmal seine brüchig werdende Stimme: „Patricia O'Malley, was hätte ich alles dafür gegeben, Dich zu einer andereren, glücklicheren Stunde getroffen zu haben..."
Entsetzen kam bei den Piraten auf, als sie den Kapitän und dessen Leute verschwinden sahen. Als die Brigg kurz darauf zu Staub zu zerfallen begann, kletterten die Piraten voller Panik so schnell wie möglich auf die „Rinceoir" zurück. Pat hatte davon nichts mitbekommen. Geradezu gewaltsam mußten Druss und Thorgil die Kapitänin auf ihr Schiff zurückbringen. 'Druss und Thorgil? Die waren doch tot...!' Nur langsam begriff sie, was geschehen war...


Die Dunkelheit war hereingebrochen. Die junge Frau mit den schlohweißen Haaren lehnte sich zurück. Ganz unheimlich war es im „Dreckigen Dutzend" geworden. Die Menschen wagten kaum zu atmen.
„Und wie ging es dann weiter?", fragte ein vorwitziger junger Halbelf in die Stille.
Vordis' in weite Ferne gerichteter Blick kehrte langsam in die Piraten-Schenke zurück.
„Es war tatsächlich so: Die Toten standen wieder auf! Die Lebenden waren erschüttert. Sie standen zwar loyal zu ihrer Kapitänin, aber auf einem Geisterschiff dienen? Pat ließ eine Diskussion erst gar nicht aufkommen. Die beiden Boote wurden klargemacht, und die Scheidenden mit Proviant und Beuteanteilen wohl versorgt. Es war für alle ein trauriger und bewegender Moment, als wir die Behelfssegel setzten und ablegten. Wir haben der „Rinceoir" noch lange nachgewunken..."
Vordis senkte den Kopf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. In der Schenke hätte man eine Nadel fallen hören können.
Dem ehemaligen Schiffsmädel wurde es plötzlich ganz eng um's Herz. Sie sprang auf, stieß ihren Schemel um, und rannte zur Tür.
Draußen ballte Vordis die Fäuste. „Pat! Ich werde Dich erlösen!", weinte sie bitterlich. „Irgendwann werde ich mit Dir kämpfen, um Dir den Fluch zu nehmen. Warte nur! Bald..."


©Andrea Schäfer
(Idee: Andy+Ebus)
Meerbusch, im Mai 1998
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