Überlebt!




Die Sonne schien nur zögernd durch den dichten Nebel, der die Ebenen Tir Thuathas wie ein Tuch bedeckte. Ihre Strahlen setzten die Umgebung in ein gespenstisches Licht. Dramur saß auf dem Bock seines Wagens und rieb sich seine vor Kälte steifen Handgelenke. Der junge Wali zog den wärmenden Umhang, den er sich um die Schultern gelegt hatte, noch enger an seinen Körper. Er lauschte in den Nebel. Von überall her kamen sie schmatzenden Geräusche von Wagenrädern und Tierhufen, die sich durch den Schlamm bewegten. Vereinzelt war ein leises Fluchen zu hören.

Um ihn waren irgendwo im Dunst die anderen Mitglieder des Wagentrecks. Eigentlich vermutete Dramur sie mehr als daß er jemanden sah. Das Licht vor ihm schimmerte heller als die Sonne jenseits des Dunstes. Es gehörte zur Esse des Schmiedes, die sich während der Fahrt feuersicher in einem anderen Wagen befand. Es führte Dramur mit seinem rötlichen Schein. Womöglich folgten auch noch andere diesem Orientierungspunkt. Irgendwo rechts war die Masse von Thurlogh ug Djarpads Yakherde zu sehen. Die Tiere bewegten sich langsam und bedächtig. Auch sie kämpften gegen den Schlamm an. Wüßte Dramur nicht um ihre Existenz, hätte er sie für Felsen gehalten, die sich bewegten. Und weiter vorne brüllte Kim Ni Máire ihre Kommandos. Sie glaubte anscheinend, in diesem sich langsam auflösenden Nebel eine Art Weg entdeckt zu haben.

Doch das Vorankommen war seit Tagen äußerst schlecht. Schlimm genug, daß der vergangene Winter überaus lang und hart war. Sein weißes Leichentuch aus Schnee und Eis begrub fast alles Leben unter einem dicken Panzer.

‚Zwei meiner vier Zugochsen hat mich dieser Winter gekostet!‘, erinnerte sich Dramur grimmig.

Das nun eingetretene Tauwetter hatte den Boden in einen matschigen und schlammigen Grund verwandelt, in den man schon beim Gehen bis zu den Knöcheln versank. Daß die Wagen überhaupt Meter für Meter vorwärts kamen, war fast ein Wunder.

‚Es ist wohl das Gefühl, diesen Winter überlebt zu haben.‘, dachte Dramur, ‚Wir alle, Menschen wie Tiere, haben plötzlich neue Kraft geschöpft. Wir haben den Erfrierungstod überwunden und fühlen uns nun stark genug, es mit jedem aufzunehmen. Deshalb kommen wir mit den Wagen überhaupt vorwärts. Doch der Winter hat uns alle geschwächt; manchen mehr als er sich eingestehen mag. Und hoffentlich halten wir diese Anstrengung aus.‘

Weiter vorn rief Kim Ni Máire, die Führerin des Wagentrecks, das Kommando zum Halten. Der Nebel hatte sich inzwischen soweit gelichtet, daß Dramur den Wagen mit dem Schmiedefeuer vor sich deutlich sehen konnte. Weiter vorne war sogar die Gestalt Kim Ni Máires zu sehen. Einige Wagenlängen links von Dramur war ein kleines Wäldchen. Zu seiner Rechten erkannte er die Yakherde jetzt als eine Masse von zotteligen Tieren. Thurlogh ug Djarpad hatte das Gehölz ebenfalls entdeckt. Der große Mann hatte seinen groben Wollmantel als Schutz vor Kälte und Nässe an und kam langsam auf Dramur zu. Den Speer hielt er in seiner rechten Hand. Aber dieser war jetzt eher eine Hilfe beim Vorankommen durch den Matsch als eine Waffe.

Bei Dramurs Wagen angekommen, nickte Thurlogh dem jungen Wali, der einen guten Kopf kleiner war als er selbst, einen stummen Gruß zu. Dramur erwiderte ihn und brachte sogar einige leise Worte über seine Lippen:

„Yrr kvedret, Thurlogh. Sag, was hältst du von diesem Wald?“

Damit hatte Dramur auf einen wunden Punkt des sonst zurückhaltenden Yakführers gezielt. Und getroffen.

Thurlogh ließ seinen Blick lange über den Waldrand schweifen. Ein paar mal schien es Dramur, als versuche der große Mann mit dem schütteren, dunkelblondem Haarzopf in das düstere Innere des Waldes zu blicken und ihm sein Geheimnis entreißen zu wollen. Dann fing er plötzlich an zu erzählen, ohne jedoch den Wald oder seine Herde ganz aus den Augen zu verlieren.

„Viele Naturgötter sind zur Zeit um uns. Sie waren zornig und so kamen die Götter des Schnees und des Eises zu uns. Doch seit einiger Zeit machen die Götter der Erde, des Wassers und des Regens auf sich aufmerksam.“

Thurlogh bewegte demonstrativ seine in Lederstiefeln befindlichen Füße in dem zähen Brei, den getaute Erde und geschmolzener Schnee hervorgerufen hatten. Es schien, als mache ihm der Schlamm die Stiefel streitig.

„Und auch dort drüben, in diesem Wald, hausen Götter.“, sagte Thurlogh. „Ich kann sie sehen.“

Erstaunt blickte Dramur von Thurglogh zum Waldrand. Hatte der Yakführer, der an unzählige Naturgötter glaubte, in der schwarzen, modrigen Dunkelheit des Waldes jetzt tatsächlich etwas gesehen? Oder wurde er nur einfach verrückt? Doch irgend etwas schien sich in dem Zwielicht jenseits der Bäume zu bewegen.

„Jetzt kommen sie.“ Thurlogh hauchte die Worte in Richtung der Bäume.

‚Wahrscheinlich ist Thurloghs Gesicht jetzt so weiß wie der Schnee vom letzten Winter!‘, schoß es Dramur durch den Kopf. ‚Wenn die Geister, an die er ehrfürchtig glaubt, wirklich zu ihm kommen!‘

Doch dann sah auch er, wie sich menschengroße Schatten aus der Baumreihe lösten. Sie bewegten sich so schnell sie konnten und mit lautem Gebrüll auf die Wagen zu. Wie gebannt blickte Dramur auf die Gestalten. Er erkannte sie als Menschen, denen die Kleider in Fetzen vom Leib hingen. Sie schwangen Knüppel, Äxte und Schwerter. Erst jetzt begriff Dramur, daß diese verhungerten Gestalten nicht um Speisen oder Getränke bitten würden. Er sprang in seinen geschlossenen Wagen um seine Axt zu holen.

Als er mit der Axt in der Hand wieder auf den Bock sprang, hatten drei der Gestalten seinen Wagen fast erreicht. Die erste hieb mit einem Schwert nach Dramur. Doch der Schlag war schwach und wenig schwungvoll. Mit einem Schritt rückwärts war Dramur außer Reichweite. Doch diesen Umstand machte sich die zweite Gestalt zunutze. Sich an dem Schwertträger vorbeidrängelnd versuchte sie, auf den Bock zu klettern. Schnell sprang Dramur vor und hieb ihm die Axt von oben auf den Schädel. Doch der Kletterer hatte seinen Schlag gesehen, wenn auch zu spät. Es gelang ihm lediglich, den Kopf etwas zur Seite zu bewegen. Der Schlag traf ihn mit voller Wucht in die Schulter. Dramur hörte Knochen brechen. Der Arm, den der Kletterer zur Abwehr der Axt erhoben hatte, prallte gegen Dramurs Handgelenk. Der junge Wali vergaß für einen Augenblick, seine Axt mit aller Kraft aus der Wunde und dem Knochenbrei zu reißen. Dann fiel der Kletterer rücklings in den Schlamm; Dramurs Axt immer noch in der Schulter.

Ein Knarren hinter Dramur zeigt an, daß eine weitere Person den Bock von der anderen Seite erstieg. Blitzartig drehte Dramur sich um, doch die zerlumpte Gestalt hatte ihr Ziel erreicht und stand ihm nun gegenüber. Mit einem Schrei schwang sie ihren Knüppel. Da Dramur auf dem engen Bock schlecht ausweichen konnte, machte er einen kurzen Satz nach hinten. So traf dessen Waffe ihn nur an der Schulter. Sie glitt ab und nahm Dramurs Umhang mit sich.

Dramur spürte einen Schmerz in seiner linken Schulter. Doch er ignorierte ihn einstweilen. Nun hatte er den Knüppelschwinger ganz nah vor sich. Er schlug ihm mit dem rechten Unterarm ins Gesicht. Der breite Bronzering, der gut ein Drittel von Dramurs Unterarm bedeckte, verlieh dem Schlag die richtige Wucht. Benommen taumelte sein Gegner . Um ihm keine Zeit zur Erholung zu geben, packte Dramur mit der linken Hand in die Haare, während er ihm seine rechte Faust in den Magen grub. Der Knüppelschwinger gab einen erstickten Laut von sich und ließ seine Waffe fallen. In seinem Augenwinkel nahm Dramur eine Gestalt hinter sich war. Blitzartig packte er den Knüppelschwinger am Gürtel und hob ihn mit aller Kraft nach oben. Mit der Hand, die immer noch das Haar der Gestalt festhielt, gab er seinem Schwung eine Richtung. Dramur drehte sich mit seinem Gegner um die eigene Achse und es gelang ihm, dabei nicht vom Bock zu fallen. Allerdings hatte Dramur dazu seine linke Hand aus dem Haar des Gegners lösen müssen. In diesem Moment sah er den Stahl des Schwertkämpfers von oben herabsausen.

Das Schwert traf den Schädel des unglücklichen Knüppelschwingers, der sich jetzt zwischen Dramur und dem Schwertkrieger befand. Der Knochen brach und eine Masse aus Hirn und Blut quoll hervor. Mit all seiner Kraft stieß Dramur den toten Körper gegen den Krieger. Dieser versuchte seinen Halt mit einem kleinen Schritt rückwärts zu festigen, doch er trat ins Leere. Der Schwung war so groß, daß Dramur ihn nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Gemeinsam mit den beiden Möchtegern-Räubern landete er im Dreck.

Der weiche Schlamm milderte den Aufprall. Zudem konnte sich Dramur seitlich abrollen. So schnell er konnte war er auf den Beinen und zog seinen Dolch. Zu seiner Linken hauchte die lumpenzerfetzte Gestalt, der Dramurs Axt noch immer in der Schulter steckte, halbversunken im Schlamm sein Leben aus. Auf der anderen Seite von Dramurs Wagen hieb gerade Thurlogh seinen Speer in den Leib eines weiteren Angreifers. Ein anderer lag bewegungslos im Schlamm vor Thurloghs Yakherde. Und zu seiner Rechten rollte der Schwertkrieger seinen auf ihm liegenden, toten Kameraden von sich und war dabei, sich zu erheben.

Mit einem Satz war Dramur bei ihm und riß ihn wieder zu Boden. Sein Dolch stach zu und glitt ab. Wieder versuchte der junge Wali, seinem Gegner den Dolch in den Leib zu rammen, aber auch diesmal rutschte er ab.

‚Verflucht, der Kerl trägt ein Kettenhemd!‘, schoß es Dramur durch den Kopf.

Inzwischen war es seinem Gegner gelungen, seinerseits einen Dolch zu ziehen. Der Schwertkämpfer stach sofort zu. Dramur spürte einen brennenden Schmerz im linken Oberschenkel. Er versuchte, die Waffenhand seines Gegners zu packen, doch sein Griff landete im Schlamm. Dramur fiel auf seinen linken Unterarm und bekam dadurch eine Handbreit Platz zwischen sich und dem Krieger. Er ließ seinen Dolch entlang der Rüstung des Mannes gleiten und stieß mit aller Kraft zum Hals des Schwertkämpfers. Dieser vermutete die Aktion und versuchte noch den Kopf wegzudrehen. Dramurs Dolch schnitt ihm tief in den Hals und verletzte auch seine Kehle.

Dramur spürte warmes Blut über seine Hand fließen. Er rollte sich von dem Krieger ab, der sich an seinen Hals griff und gurgelnde Geräusche von sich gab. Daß um Dramur herum der Kampf fast beendet war, nahm der Wali nur am Rande wahr. Erschöpft lehnte er sich an seinen Wagen und blickte auf den Schwertkämpfer. Es steckte immer noch Leben in ihm. Doch schnell rann dieses mit dem Blut aus seinem Körper. Es gelang dem Mann sogar noch, auf die Knie zu kommen. Dann griff der Totgeweihte sein Schwert. Sich auf seine Waffe stützend, kam die in Lumpen gekleidete und mit seinem eigenen Blut überströmte Gestalt wieder auf die eigenen Beine.

‚Welche Kraft, welchen Willen muß dieser verzweifelte Mensch haben?‘, fragte sich Dramur erstaunt.

Dann blickten sich beide Männer in die Augen. Sie hatten beide erbittert gekämpft. Der eine, um Leben und Nahrung zu bekommen; der andere, um dies zu verteidigen. Beide wußten, daß nach diesem Kampf nur einer von ihnen das erhalten würde wonach er begehrte. Zu hart war der vergangene Winter, zu groß die erlittenen Qualen und zu stark der entstandene Überlebenswille. Die Augenblicke wurden zu Ewigkeit. Dann brach der Schwertkrieger lautlos zusammen.


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Es nieselte. Ein Feuer brannte und warf seinen hellen Schein in die dunkle, kalte Nacht. Die Mitglieder des Wagentrecks scharrten sich um das wärmende, lebenspendende Licht. Dramur humpelte, einen Kupferkessel in der Hand, durch die Gruppe. Es stellte den Kessel in das Feuer und setzte sich auf ein Stück Holz.

„Wartet noch etwas, bis der Met warm ist.“, sagte Dramur, da sich einige Hände schon Richtung Kessel bewegten. „Der warme Met wird uns vor einer Erkältung schützen.“ Die Hände wurden wieder unter wärmende Umhänge und Felle gesteckt.

„Wo warst du so lange? Laß schauen, wie es deiner Wunde geht.“ Kim Ni Máire hockte sich neben Dramur und löste den Verband von seinem linken Oberschenkel. „Die Wunde wird gut heilen.“, meinte sie nach einer eingehenden Untersuchung. Dann bestrich Kim die Wunde mit einer Salbe und legte den Verband an. „Du kannst von Glück sagen, daß die Wunde nicht tief ist. Sonst hätte das böse ausgehen können.“

„Sie waren alle sehr mager und entkräftet.“, bemerkte Thurlogh ug Djarpad. „Die Naturgötter haben auch ihnen gezürnt. Und da sie keinen hatten, der die Götter beschwichtigt, mußten sie hungern.“ Thurlogh fing an, von den Naturgöttern zu erzählen. Die Mitglieder des Wagentrecks hörten zu. Der Schock des Überfalls steckte ihnen immer noch in den Knochen; obwohl keiner von ihnen ernsthaft zu Schaden gekommen war.

Dramur nahm die Erzählung nur am Rande wahr. Er blickte zum Waldrand, wo er den Schwertkrieger begraben hatte.

„In einer besseren Zeit hättest du wahrscheinlich mit uns am Feuer gesessen und wir hätten Geschichten und Erlebnisse ausgetauscht.“, murmelte Dramur leise.

Dann sah er in die Runde der Mitglieder des Wagentrecks. Alle starrten in das wärmende Feuer und lauschten mehr oder weniger Thurloghs Erzählung. Der Wali ging zum Kupferkessel und nahm den Deckel ab. Der warme Met blubberte fröhlich vor sich hin. Dramur wickelte einen Lappen um den Henkel, hob ihn an und nahm die Holzkelle in die rechte Hand.

Er blickte auf. Die Erzählung war verstummt und alle blickten gebannt auf den schimmernden Kessel.

„Haltet eure Becher bereit, jetzt gibt es Metizin!“, verkündete Dramur, um das Schweigen zu brechen.

Und sogleich tauchten aus Mänteln und Umhängen Trinkgefäße aus Ton, Holz, Horn und Metall auf. In jedes davon goß Dramur eine Kelle des warmen Mets. Als letztes schenkte er sich selbst ein. Dann erhob er seinen Holzbecher und sagte mit lauter, durchdringender Stimme:

„So wie der wärmende Frühling die Erde wieder mit Leben erfüllt, so möge dieses Getränk eure Körper und Lebensgeister stärken. Auf das Leben!“


© Jürgen Preiß
Braunschweig, im November 1997


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